Postmigrantischer Jurist*innenbund
Stellungnahme des PMJB zu Grundrechtseinschränkungen bei Palästinasolidarität und dem Schweigen der Rechtswissenschaft
Die deutsche Rechtswissenschaft scheint sich seit der Verschärfung der Situation in Gaza, ausgelöst durch den Anschlag der Terrororganisation Hamas am 07. Oktober 2023, wenig für Grundrechte hierzulande zu interessieren. Dabei ist es üblich, dass Rechtswissenschaftler*innen sich regelmäßig zu tagespolitischen Themen mit Rechtsbezug äußern. Zu staatlichen Maßnahmen, die in die Grundrechte von Personen im Kontext palästinasolidarischer Äußerungen und Handlungen eingreifen, hört man jedoch nur von vereinzelten Stimmen etwas. Anlass gäbe es genug, denn die Solidarität mit Palästinenser*innen wird im deutschen Diskurs mitunter pauschal diffamiert. Damit einher gehen weitreichende Einschränkungen der Proteste. Gleichzeitig ist der Anstieg sowohl antisemitischer als auch antimuslimischer Straftaten (nicht nur, aber auch) seit dem 07. Oktober 2023 erschreckend. Angriffe auf Synagogen und Moscheen sowie auf jüdische und muslimische Organisationen und Menschen lösen große Angst in den Communities aus.
Die Aufgabe des deutschen Staates muss es sein, diesen Entwicklungen entgegenzuwirken, um Minderheiten effektiv zu schützen. Bezüglich antisemitischer Straftaten bedeutet das, diese auch im Kontext des Gaza-Krieges zu erkennen und zu verfolgen. Dies darf jedoch nicht dazu führen, dass ganze Gruppen und insbesondere muslimisch gelesene Menschen homogenisiert werden und aufgrund von Straftaten Einzelner unter den Generalverdacht gestellt werden, von ihnen gingen stets antisemitische Gefahren aus. Die zahlreichen staatlichen Eingriffe lassen uns genau das besorgen, nämlich dass unverhältnismäßig stark in Grundrechte und zwar maßgeblich von Minderheiten eingegriffen wird (s. dazu auch die Einschätzung des European Civic Forums, S. 19 ff.). Wir beobachten diese Entwicklung äußerst kritisch und fordern die Wahrung der Grundrechte aller Menschen durch den deutschen Staat. Uns ist dabei bewusst, dass dieses Thema derzeit polarisiert und hoch emotional geführt wird. Mit dieser Stellungnahme möchten wir an die Rechtswissenschaft appellieren, die Grundrechtseinschränkungen ernst zu nehmen und sich zum Schutz des demokratischen Rechtsstaats mit ihnen differenziert auseinanderzusetzen.
I. Einschränkung von Freiheitsrechten
Seit Beginn des Gaza-Krieges beobachten wir Eingriffe in zahlreiche Grundrechte im Rahmen palästinasolidarischer Äußerungen und Handlungen. Behörden gehen dabei häufig mit ganzer Härte vor. Die einzelnen Fälle sind verschieden, eine pauschale rechtliche Beurteilung verbietet sich somit. Die abschließende Klärung der Recht- und Verfassungsmäßigkeit staatlicher Maßnahmen bleibt den Gerichten überlassen. Die vielen Fälle staatlicher Maßnahmen gegen Personen, die sich mit Palästinenser*innen solidarisieren, sind jedoch Grund zur Sorge, dass auch ungerechtfertigt in Grundrechte eingegriffen wird. Dabei schaden nicht nur die einzelnen Freiheitseinschränkungen als solche, sondern auch die davon ausgehenden chilling-effects der grundgesetzlichen Demokratie und dem Rechtsstaat enorm.
1. Meinungsfreiheit
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) bezeichnet die Meinungsfreiheit als für die freiheitliche demokratische Staatsordnung als schlechthin konstituierend, weil sie erst den Raum für politische Auseinandersetzungen öffnet (BVerfGE 7, 198 (Rn. 31)). Für sie gilt deshalb, dass bei mehreren Deutungsmöglichkeiten einer Meinungsäußerung diejenige zugrunde gelegt werden muss, die die Strafbarkeit ausschließt (BVerfGE 93, 266 (295 f.)).
Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung mit der Meinungsfreiheit steht die Parole “from the river to the sea”, die derzeit Anlass für staatliches Einschreiten bietet und die als antisemitisch kritisiert wird. Die Parole kann unzweifelhaft antisemitisch und mit Auslöschungsphantasien gegenüber Jüdinnen und Juden verwendet werden, z. B. indem damit die gewaltsame Abschaffung des Staates Israels gemeint ist. Eine strafbare Verwendung ist daher unter diesen Umständen möglich. Andererseits berichten Beschuldigte, wie z. B. hier, dass sie diese strafbare Deutungsmöglichkeit der Parole nicht gekannt hätten und vielmehr auf die erstrebte Freiheit von der völkerrechtswidrigen Besatzung der palästinensischen Gebiete durch Israel bzw. auf eine Zwei- oder Einstaatenlösung hinwirken wollen. Inwiefern dies keine reine Schutzbehauptung ist und wie die Parole im konkreten Fall auszulegen ist, ist eine Tatfrage, die Gerichte zu beurteilen haben. Bei der Beurteilung sind die für die Meinungsfreiheit entwickelten Auslegungsgrundsätze und insbesondere die Pflicht zur meinungsfreiheitsfreundlichen Auslegung von Aussagen stets konsequent anzuwenden.
Das Bundesinnenministerium bezeichnet die Parole in dem Vereinsverbot der Hamas allerdings als Kennzeichen dieser und hat damit den Weg geebnet, die Parole nach § 86a StGB zu verfolgen. Die strafrechtlichen Implikationen sind noch nicht abschließend geklärt. So kritikwürdig die Parole auch ist, die pauschale Einordnung als Kennzeichen der Hamas ist letztlich rechtlich verfehlt. In diese Richtung entschied auch jüngst das LG Mannheim und argumentierte, dass die Parole in dem zugrundeliegenden Fall eindeutig nicht als Kennzeichen der Hamas verwendet worden sei. Freilich kann dies in anderen Fällen anders zu bewerten sein. Dies zeigt jedoch, dass es weiterhin einer Einzelfallbetrachtung durch ein Gericht bedarf und es unzulässig ist, eine solche Parole bereits vorab pauschal und kontextunabhängig für strafbar zu erklären. Uns geht es dabei ausdrücklich nicht darum, die Parole oder ihre Verwendung zu rechtfertigen oder gutzuheißen, sondern die rechtlichen Maßstäbe zur Wahrung der Meinungsfreiheit herauszuarbeiten, die in einer Demokratie auch dann eingehalten werden müssen, wenn die Meinung nicht geteilt wird.
Die aktuelle Praxis entfernt sich von den differenzierten rechtlichen Maßstäben und zeigt, dass bereits der Verdacht auf eine strafbare Handlung zu weitreichenden Konsequenzen führen kann. So hat das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg die Kündigung des Leistungsvertrags mit dem FRIEDA-Frauen*zentrum e.V. u.a. auf Äußerungen und Auftritte bezogen, die “nach Überzeugung des Bezirksamts” strafrechtlich relevant seien, weil die Staatsanwaltschaft wegen Volksverhetzung und Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen ermittle. Wie oben ausgeführt, ist die Beurteilung, ob tatsächlich ein strafbares Verhalten vorliegt, nicht ohne Weiteres möglich und hängt vielmehr von den konkreten Umständen des Einzelfalles ab. Dass laufende Ermittlungsverfahren ohne strafrechtliche Verurteilung einer der Hauptgründe für die sofortige Kündigung des Leistungsvertrags und der Schließung der Mädchen*zentren Phantalisa und Alia sind, ist aus rechtsstaatlicher und freiheitsrechtlicher Sicht daher höchst besorgniserregend. Das gilt insbesondere vor dem Hintergrund der wichtigen queerfeministischen Arbeit der Zentren zur Unterstützung von Frauen*, die von Mehrfachdiskriminierung betroffen sind.
Dieser Vorfall verdeutlicht die Dringlichkeit der Klärung rechtlicher Fragen, um ein unproportionales staatliches Eingreifen in Grundrechte zu verhindern. Die Rechtswissenschaft sollte – wie auch sonst üblich – sich intensiv mit den Fragen der Strafbarkeiten auseinandersetzen und so die rechtlichen Rahmenbedingungen für einen angemessenen Grundrechtsschutz schaffen. Das ist bisher – mit wenigen Ausnahmen – ausgeblieben.
2. Versammlungsfreiheit
Die Versammlungsfreiheit hat das BVerfG in seinem Brokdorf-Beschluss für ebenso konstituierend für die freiheitliche demokratische Staatsordnung betrachtet, wie die Meinungsfreiheit (BVerfGE 69, 315 (344)). Damit hat das BVerfG den Grundstein für den hohen Schutz gelegt, den die Versammlungsfreiheit heute erfährt. Versammlungsverbote sind nach den Versammlungsgesetzen nur durch unmittelbare Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung gerechtfertigt. Das BVerfG fordert dafür eine Gefahrenprognose, an die sehr hohe Maßstäbe anzulegen sind. Vor Verboten sind zudem andere Maßnahmen, wie z. B. Auflagen oder das Vorgehen gegen Einzelpersonen zu prüfen. Die behördliche Handhabe pro-palästinensischer Proteste scheint diesen Grundsätzen allerdings häufig keine Rechnung zu tragen. So wurden im Oktober vielerorts für einen gewissen Zeitraum pro-palästinensische Versammlungen ohne hinreichende Gefahrenprognose pauschal verboten. Die Rechtswidrigkeit dieser Maßnahmen wurde teilweise gerichtlich bestätigt (so z. B. in Frankfurt a.M., Hamburg und München). Auch die Auflösung des Palästina-Kongresses (zur Kritik am behördlichen Vorgehen s. hier), die Auflösung des Protestcamps auf der Bundestagswiese sowie die Räumung des Protestcamps an der Freien Universität Berlin sind Beispiele für aufgelöste Versammlungen, bei denen das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Auflösung zweifelhaft sind. Häufig wird versucht, die Auflösung der Proteste durch auf den Demonstrationen (mutmaßlich) verübte Straftaten zu rechtfertigen. Drohen tatsächlich konkrete Gefahren für die öffentliche Sicherheit, insbesondere in Form von antisemitisch motivierten Straftaten, muss der Staat selbstverständlich eingreifen und diese verhindern oder verfolgen. Doch auch hier muss der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei damit einhergehenden Eingriffen in die Versammlungsfreiheit beachtet werden. Straftaten Einzelner rechtfertigen noch nicht die Auflösung einer ansonsten friedlichen Versammlung. Die Grundrechte gebieten, dass auch bei Versammlungen mit unliebsamen Meinungsäußerungen die gewährleistungsspezifischen Vorgaben der Versammlungsfreiheit berücksichtigt werden, also das Verbot und die Auflösung einer Versammlung letztes Mittel bleiben. Für alle Versammlungen müssen die gleichen verfassungsrechtlichen Maßstäbe gelten. Ist das nicht der Fall, wird der Eindruck erweckt, es handele sich bei den Versammlungsauflösungen um eine politische und keine rechtliche Entscheidung. Auch zu den Einschränkungen der Versammlungsfreiheit hört man jedoch wenig von etablierten Verfassungsrechtler*innen.
3. Wissenschaftsfreiheit
In diese Entwicklungen reiht sich die Diffamierung von Universitäts- und Hochschullehrenden ein, die sich in einem offenen Brief hinter die protestierenden Studierenden der Berliner Universitäten stellen. Unabhängig von ihrer eigenen politischen Haltung zum Nahostkonflikt fordern sie die Wahrung der Versammlungsfreiheit. Trotz dieser Distanz zum Inhalt stellt die Bundesministerin für Bildung und Forschung (BMBF) Bettina Stark-Watzinger in der BILD in Frage, ob die über 1300 Unterzeichnenden auf dem Boden des Grundgesetzes stehen. Der Landesvorsitzende der CDU-Brandenburg, Jan Redmann, fordert in diesem Kontext die Beobachtung von “Linksextremen und Islamisten” an Universitäten durch den Verfassungsschutz. Anschließend wurde bekannt, dass das Bildungsministerium nicht nur prüfen ließ, ob der offene Brief strafrechtlich relevant sein könnte, sondern auch, ob den unterzeichnenden Hochschullehrer*innen deshalb Förderungen gestrichen werden könnten. Dass ein solches Vorgehen eine ernsthafte Gefahr für die Wissenschaftsfreiheit darstellt, liegt auf der Hand, weshalb ein weiterer offener Brief die damit einhergehenden Einschränkungen der Wissenschafts- und Meinungsfreiheit thematisierte. Erst nach öffentlicher Skandalisierung stellte das BMBF klar, dass der offene Brief mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Dass das gleiche auch für das Vorgehen des Bildungsministeriums gilt, ist allerdings zu bezweifeln. Hier zeigt sich die Auswirkung des Diskursungleichgewichts auf die Wissenschaftsfreiheit, wenn Forschende für den Schutz von Werten der freiheitlichen demokratischen Grundordnung – denn es geht in dem Brief allein um die Wahrung der Versammlungsfreiheit – politisch unter Druck geraten.
Auch die nachträgliche Ausladung von Professorin Nancy Fraser durch die Universität zu Köln wegen der Unterzeichnung des offenen Briefes “Philosophy for Palestine” stellt die in Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG garantierte Wissenschaftsfreiheit in Frage. In einem solchen Umgang mit Wissenschaftler*innen wegen einer freien – aus Sicht der Universitätsleitung unliebsamen – Meinungsäußerung, die in keinem Zusammenhang zu den geplanten Vorlesungen stand, sehen wir eine reelle Gefahr für die Wissenschaftsfreiheit. Damit sind wir nicht allein: So haben bereits über 130 Professor*innen eine Stellungnahme zur Ausladung von Prof. Fraser unterzeichnet, welche sie dort u.a. als Angriff auf die Universität als “Ort für intensiven und kontroversen Austausch über gesellschaftlich relevante Fragen [...]” werten.
4. Kunstfreiheit
Auch die erneut aufgekommene Debatte im Berliner Senat über die Einführung einer “Antidiskriminierungsklausel” als Voraussetzung für Kulturförderung (wohl aber auch für Zuwendungen in anderen Bereichen wie Sport oder Bildung) muss verfassungsrechtlich informiert erfolgen. Die Einführung einer Antidiskriminierungsklausel im Januar 2024 durch den Kultursenator Berlins sorgte insbesondere durch ihren Bezug auf die IHRA-Arbeitsdefinition Antisemitismus für Kritik, weil sie damit einen rechtlich nicht klar umrissenen Begriff zur Grundlage für administrative Entscheidungen machte (zur Kritik hier). Viele Künstler*innen äußerten sich daher besorgt in Bezug auf derartige Klauseln. Da die IHRA-Arbeitsdefinition auch Meinungsäußerungen umfasst, die nicht strafbar und deren antisemitischer Gehalt umstritten sind, besteht die Gefahr, dass verfassungswidrigerweise nicht-strafbare Kritik an der israelischen Regierung zum Ausschluss von staatlicher Förderung führt.
Doch auch die jetzigen Versuche, eine Antidiskriminierungsklausel über das Zuwendungs- und Förderungsrecht umzusetzen, stoßen auf verfassungsrechtliche Bedenken, die unbedingt zu berücksichtigen sind. Insbesondere ist auch die Leistungsverwaltung, sobald sie sich für die Förderung bestimmter Bereiche entschieden hat, an die Grundrechte gebunden und darf gem. Art. 3 Abs. 3 GG nicht wegen der politischen Anschauung diskriminieren.
Gleichzeitig ist Antisemitismus in der Kunst ernst zu nehmen und darf nicht gefördert werden. Aufgrund der Repressionen gegen palästinasolidarischen Aktivismus und dem immer stärker werdenden antimuslimischen Rassismus, sehen wir aber die Gefahr, dass wegen rassistischer Vorurteile und Verunsicherungen von Entscheidungsträger*innen, Kunstförderung für bestimmte Personengruppen weniger zugänglich wird. Auch schwebt die Gefahr über den Künstler*innen, dass Förderungen wegen – mit dem Grundgesetz im Einklang stehender – politischer Äußerungen gestrichen werden. Eine Antidiskriminierungsklausel darf deshalb keinesfalls dazu führen, dass verschiedene Ansichten und künstlerische Interventionen zu politischen Fragen unmöglich werden.
II. Die deutsche Rechtswissenschaft
Bei all den offenen Briefen und Stellungnahmen, die den beschriebenen Entwicklungen entgegenzuwirken versuchen, fällt die Abwesenheit vieler Rechtswissenschaftler*innen besonders ins Auge. Obwohl die Rechtswissenschaft gerade in Bezug auf Freiheitseinschränkungen die nötige Expertise hat und sich schon vor gerichtlichen Entscheidungen mit staatlichen Maßnahmen und politischen Entwicklungen auseinandersetzen kann, bleibt sie in Bezug auf die Freiheitseinschränkungen palästinasolidarischer Stimmen erstaunlich still. Zentral dafür sind sicherlich die Besonderheiten der rechtswissenschaftlichen Ausbildung und Lehre an deutschen Universitäten, welche traditionell wenig Raum für kritisches Denken lassen. Hinzu kommt die Sorge, eigene Einschränkungen erfahren zu müssen, wenn man sich schützend vor marginalisierte Gruppen stellt. Eine Sorge, die berechtigt ist, wie die obigen Ausführungen zur Wissenschaftsfreiheit und die angesprochenen chilling-effects zeigen. Dabei geht es für die Rechtswissenschaft nicht darum, sich einer bestimmten Meinung anzuschließen, sondern ein Verständnis dafür zu entwickeln, was Freiheitsrechte bedeuten, wo ihre Grenzen liegen und wie sie geschützt werden können. Dies setzt zwingend einen offenen Diskurs voraus, in dem hegemoniale Stimmen nicht weiter die Deutungshoheit für sich beanspruchen dürfen. Nur so kann die Rechtswissenschaft ihrer Aufgabe, grundlegende demokratische Grundsätze zu verteidigen, gerecht werden.
Die Stellungnahme wurde mehrheitlich im Verein beschlossen, repräsentiert aber nicht die individuelle Meinung aller Mitglieder.